Am 9. Oktober 2025 versammelten sich beim Klimakongress des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) in Berlin Expert:innen aus Forschung, Industrie, Finanzmarkt und NGOs, um über die Zukunft der deutschen Wirtschaft in Zeiten der Klimatransformation zu diskutieren. Was auf den ersten Blick wie ein weiterer Pflichttermin im Veranstaltungskalender wirken mag, entpuppte sich als aufschlussreicher Blick hinter die Kulissen einer unter Druck stehenden Industrie und gab spannende Einblicke in Technologien, bei denen Europa gegenüber den USA und China noch einen Vorsprung hat, diesen jedoch zu verspielen droht.

Warme Worte, fehlende Taten
Während die anwesenden politischen Vertreter:innen von CDU/CSU, SPD und Grünen erwartungsgemäß viele warme Worte, aber wenig Greifbares lieferten, waren die Vorträge aus Wissenschaft und Industrie von deutlicher Offenheit geprägt. Die Botschaft an die Regierung lautet: Die Dringlichkeit erkennen und schnellstmöglich klare Rahmenbedingungen schaffen! Der Markt fordert verlässliche Strukturen und gezielte Finanzierung, aber keine überregulierten und zu kleinteiligen Vorgaben. Dies gilt für die Dekarbonisierung des Energiesektors ebenso wie für den Infrastrukturausbau oder die Frage, welcher Weg bei Heizung und Dämmung im Gebäudesektor eingeschlagen werden soll.
Am Rande der Krise: Leibingers Weckruf
BDI-Präsident Peter Leibinger lieferte den wohl eindringlichsten Impuls des Tages.
Seine Diagnose: Die deutsche Industrie stehe am Rande einer existenziellen Krise.
Sein Vorschlag: Berlin und Brüssel müssten Leadership zeigen – mit einer klaren Linie und einer einheitlichen Botschaft, die deutlich macht, wohin die Reise der klimafreundlichen Transformation gehen soll. Gleichzeitig müsse ein echter europäischer Binnenmarkt für Kapital und Energie geschaffen werden, damit Europa im globalen Wettbewerb geschlossen auftreten könne.
„Die, die selbst produzieren, innovieren am besten“, betonte Leibinger und forderte von der Politik „Commitment und Flexibility“ sowie die Toleranz, in einer oftmals ideologisch aufgeladenen Diskussion auch andere Meinungen zuzulassen. In einer Zeit, in der klimapolitische Diskussionen oft polarisiert und verhärtet geführt werden, ist dies ein sinnvolles Signal. Zudem kritisierte er die kleinteiligen EU-Vorgaben bei der Nachhaltigkeitsregulierung – ein Punkt, der im Laufe des Tages noch mehrfach aufgegriffen wurde.
Industrie fordert pragmatische Energiewende
Im Panel „Klimaschutz unter Druck“ prognostizierten die Teilnehmenden eine Gefährdung der Wettbewerbsfähigkeit der EU durch den in den nächsten Jahren voraussichtlich steigenden CO2-Preis sowie durch marktwirtschaftliche Klimainstrumente wie den Emissionshandel und CBAM. Marc Spieker, COO von E.ON, kritisierte die „normative Realitätsverzerrung der EU“, während Uwe Lauber, CEO von Everllence (vormals MAN Energy Solutions) und Mitglied des Nationalen Wasserstoffrates der Bundesregierung, bemängelte, dass beispielsweise Wasserstoffanlagen seitens der EU totreguliert würden.
Der allgemeine Tenor der Runde: Die auch von Bundeskanzler Merz so gern zitierte Technologieoffenheit zulassen und breite Transformationspfade schaffen. Da beispielsweise das Zeitalter der Baseload-Kraftwerke vorbei sei, liege die Zukunft in der Kombination aus erneuerbaren Energien, flexiblen (Batterie-)Speichern und Backup-Gaskraftwerken. Hier müsse man pragmatisch sein, keine ideologisierten Diskussionen führen und sich nicht auf bestimmte Technologien festnageln lassen.
Zwischen Verantwortung und Relativierung
Klar ist aber auch: Wenn BDI-Präsident Leibinger im Gleichklang mit Bundeskanzler Merz den aktuell niedrigen globalen Anteil deutscher CO2-Emissionen von etwa 2 % als Argument dafür anführt, warum Deutschlands Maßnahmen zur Reduktion von Emissionen im globalen Kontext einen vergleichsweise niedrigen Einfluss hätten, sollte er im Auge behalten, dass der Treibhauseffekt vor allem von der Konzentration von CO2 in der Atmosphäre abhängt – und dass Deutschland historisch gesehen zu den größten Emittenten seit der Industrialisierung gehört.
Der BASF-Vorstandsvorsitzende Markus Kamieth stellte gar den Sinn gesetzlicher Klimaziele infrage und argumentierte, es sei unerheblich, ob man Klimaneutralität 2045, 2047 oder 2048 erreiche. Natürlich kann man argumentieren, dass es nicht auf einige wenige Jahre ankommt, bis ein solch ambitioniertes und bedeutendes Ziel erreicht wird. Doch gerade der CEO des nach Umsatz größten Chemiekonzerns der Welt sollte sich der kommunikativen Bedeutung und Wichtigkeit von Zielen für einen konkreten Zeitpunkt bewusst sein, wenn es darum geht, Veränderungen innerhalb von Organisationen wie Unternehmen voranzutreiben.
Transition Finance statt grüner Perfektion
Und dann stellt sich natürlich noch die Frage: Wie soll all das finanziert werden? Eine Tatsache, die Mut macht: 2024 wurde weltweit erstmals mehr privates als öffentliches Kapital in Klimaschutz investiert. Der Finanzsektor arbeitet daran, diesen Anteil weiter zu erhöhen. Eine Vereinfachung der Regulierung sei das Stichwort – denn auch Banken vereinfachen das Reporting für ihre Kunden, wenn es darum geht, Nachhaltigkeitskriterien bei der Kreditvergabe einzubeziehen.
Lavinia Bauerochse, Global Head of Sustainable Finance bei der Deutschen Bank, fordert: „Wir müssen den Fokus von Compliance auf Umsetzung lenken.“ Die Bank lege ihren Fokus auf Transition Finance und nicht mehr nur auf grüne Aktivitäten – eine pragmatische Antwort auf die Realität, dass der Großteil der Wirtschaft noch nicht klimaneutral ist.
Ein positives Zeichen kam von Andreas Steidle, Head of Energy Management bei Evonik. Er betonte, dass sein Unternehmen aktuell kein Problem habe, an Geld zu kommen. Green Bonds, also Anleihen zur Finanzierung nachhaltiger und klimafreundlicher Projekte, seien regelmäßig sogar überzeichnet. Doch es gibt auch Branchen, die dieses Luxusproblem noch nicht haben.
Zukunftsmusik oder konkrete Chance?
Eine der spannendsten Diskussionen drehte sich um die Kernfusion, die kurz vor der Industrialisierung stehe. Europa müsse jetzt handeln, um seinen strategischen Vorsprung nicht zu verlieren, hieß es. „Wir brauchen kein weiteres Demo-Kraftwerk, sondern das erste kommerziell rentable“, forderte Dr. Markus Roth, Co-Founder von Focused Energy. Der Staat solle den Wettbewerb zwischen Start-ups fördern und die Förderung als Investition in die Zukunft betrachten. So würden Arbeitsplätze geschaffen, Steuereinnahmen generiert und technologische Führerschaft erlangt. Die Vertreter:innen der Fusionsbranche waren sich einig, dass der Kernfusions-Aktionsplan der Bundesregierung mit zusätzlichen Mitteln von 750 Millionen Euro nicht weit genug gehe. Weltweit fließen derzeit etwa zehn Milliarden US-Dollar in die Kernfusion, der Großteil davon in den USA und China.
Neben der Kernfusion wurde ein weiteres Zukunftsthema diskutiert: die Energieerzeugung mithilfe von Höhenwinden in 400 bis 600 Metern Höhe, auch Flugwindenergie genannt, wie sie das deutsche Unternehmen SkySails Power bereits praktiziert. Doch auch hier die Warnung: China könnte Deutschland überholen, wenn nicht bald gezielte Investitionen fließen, denn auch diese Technologie ist Teil des chinesischen 10-Jahresplans.
Fazit: Tempo statt Paragrafen
Am Ende des Kongresses herrschte Einigkeit: Es ist Zeit, ins Tun zu kommen, um im globalen Wettbewerb nicht weiter zurückzufallen. Der Markt fordert von der Politik klare Rahmenbedingungen und gezielte Finanzierung als Basis für eine erfolgreiche Transformation.
Jan Brorhilker von EY Deutschland betonte, dass man sich die Unternehmenskultur anderer Länder zum Vorbild nehmen müsse und auch mal Fehler machen sollte, um daraus zu lernen. Deutschland habe nach wie vor die besten Ingenieur:innen und Beispiele wie München als Innovationshub stimmten ihn positiv. Europa müsse sich jedoch davon verabschieden, bei erneuerbaren Energien und grüner Technologie weltweit Vorreiter zu sein. „Reisen Sie mal vier Wochen durch China“, forderte BASF-Vorstandsvorsitzender Markus Kamieth provokant.
Der Kongress zeigte: Die Transformation ist keine Frage des „Ob“, sondern des „Wie“ – und vor allem des Tempos. Europas Transformationsfähigkeit wird zur Existenzfrage im Wettlauf mit anderen Großmächten. Ob sich Klimaschutz und wirtschaftliches Wachstum in Einklang bringen lassen, wird sich zeigen. Der Ausgang des parallel zum Klimakongress stattfindenden Autogipfels, bei dem das Verbrenner-Aus für 2035 erneut auf den Prüfstand gestellt wurde, lässt zumindest auf den ersten Blick den Schluss zu, dass die Gebete und die Ängste eines wichtigen Wirtschaftszweigs, der seit jeher zu den Garanten für Wohlstand in Deutschland und Europa zählt, bereits erhört wurden.